Der grobe Unfug vom Gerede einer “Leitkultur”

[Dieser Artikel bezieht sich auf die Forderung der ÖVP im Wahlkampf 2024 eine österreichische Leitkultur in die Verfassung aufzunehmen. “Gerede” wird im Sinne Heideggers verwendet als: unreflektiert, unhinterfragt, entfremdet, uneigentlich.]

Was bedeutet "Leitkultur"?

Die Idee einer "Leitkultur" bringt die Vorstellung einer dominanten Kultur mit sich, die als Maßstab und Orientierungspunkt für das gesellschaftliche Zusammenleben innerhalb eines bestimmten nationalen oder regionalen Raums dient. Diese Vorstellung impliziert eine Hierarchie von Kulturen, in der die als "Leitkultur" definierte kulturelle Identität anderen Kulturen übergeordnet wird. Eine solche Hierarchie ist problematisch, da sie:

  1. Machtstrukturen zementiert: Die Bevorzugung einer Kultur über andere verfestigt bestehende Machtverhältnisse und legitimiert eine soziale Ordnung, in der bestimmte kulturelle Ausdrucksformen und Praktiken privilegiert werden. Dies führt zur Marginalisierung und Unterdrückung von kulturellen Gruppen, die nicht der Norm der "Leitkultur" entsprechen.

  2. Einseitige Integration fördert: Anstatt eine gegenseitige kulturelle Durchdringung und Bereicherung zu ermöglichen, fördert das Konzept der "Leitkultur" eine einseitige Anpassung. Minderheiten werden dabei oft dazu gedrängt, ihre eigene kulturelle Identität zugunsten der dominanten Kultur aufzugeben oder zu verbergen.

Falscher Kulturbegriff

Die Vorstellung von Kultur als abgrenzbaren, homogenen Einheiten, ähnlich den noch von Herder beschriebenen "Kugeln", steht in direktem Widerspruch zu einem dynamischen und interaktiven Verständnis von Kultur. Moderne kulturtheoretische Ansätze betonen, dass:

  1. Kulturen durchlässig und dynamisch sind: Kulturen entwickeln sich ständig weiter, indem sie Elemente anderer Kulturen aufnehmen und integrieren. Dieser Prozess der kulturellen Hybridisierung widerspricht der Idee statischer, klar abgegrenzter kultureller Blasen.

  2. Kulturelle Praktiken und Symbole sind vielschichtig: Kulturelle Ausdrucksformen und Symbole können unterschiedliche Bedeutungen in verschiedenen Kontexten haben. Die Reduzierung einer Kultur auf eine monolithische Einheit ignoriert die Komplexität und Vielfalt innerhalb kultureller Gruppen.

  3. Die Vorstellung abgeschlossener Kulturen ist eine Fiktion: In der Realität existieren keine reinen oder isolierten Kulturen. Kultureller Austausch und gegenseitige Beeinflussung sind historisch gesehen die Regel, nicht die Ausnahme - Kulturen sind stets hybrid. Die Idee abgeschlossener Kulturen dient oft der Legitimation von Exklusionsmechanismen und der Aufrechterhaltung sozialer und politischer Grenzen.

Philosophische Perspektive

Aus einer philosophischen Perspektive kann argumentiert werden, dass der Begriff "Leitkultur" ein reduktionistisches und essentialistisches Verständnis von Kultur propagiert, das der komplexen Realität menschlichen Zusammenlebens nicht gerecht wird. Kultur ist ein lebendiges Gewebe, das aus dem Zusammenspiel unzähliger Fäden besteht. Jeder Versuch, Kultur als starre, abgeschlossene Einheit zu definieren, verkennt die inhärente Dynamik und Veränderlichkeit kultureller Identitäten.

In diesem Sinne ist das Konzept der "Leitkultur" nicht nur kulturtheoretisch problematisch, sondern auch philosophisch bedenklich. Es basiert auf einer vereinfachten und veralteten Sicht auf Kulturen, die in der heutigen global vernetzten und kulturell vielfältigen Welt nicht haltbar ist. Zudem schafft es eine künstliche Trennlinie zwischen "wir" und "den anderen", was zu Ausgrenzung und Diskriminierung führen kann. Anstatt kulturelle Vielfalt als Bedrohung für sozialen Zusammenhalt zu sehen, sollten wir sie als Quelle der Bereicherung und als Chance für das gegenseitige Verständnis und Wachstum begreifen.

Österreichische Leitkultur?

Auf Nachfrage vermelden ÖVP Abgeordnete, dass Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Gleichberechtigung zur österreichischen Leitkultur gehören würden. Diese sind aber keineswegs spezifisch österreichisch, wie wir alle wissen, sondern Grundpfeiler der modernen Zivilisation, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, so wie auch in der österreichischen Verfassung. Diese Prinzipien als spezifisch österreichische Werte zu beanspruchen, verkennt absichtlich ihre universelle Bedeutung. Es ist entscheidend, zu erkennen, dass der Kern dieser Werte über nationale Grenzen hinweg Gültigkeit besitzt und für das Zusammenleben aller Menschen von grundlegender Bedeutung ist.

Ganz persönlich

Bin ich einfach nur schockiert. Seit Jahrzehnten wird in der Kulturtheorie und Philosophie sowohl die falsche Vorstellung einer homogenen, geschlossenen Identität als auch Kultur dekonstruiert und dann so etwas. Es ist eigentlich kaum zu fassen, wie sehr man sich nach hinten bewegen kann. Wir sollten alle sehr sehr genau hinsehen, wie das weiter geht! Wenigstens hat sich auch der Präsident des Blasmusikverbandes von diesem Gerede distanziert.

In den Worten Rosi Braidottis: “Belonging is not the attachment to static identity lines but the dynamic and transversal moves across ecosophically interconnected categories. A sense of familiarity with the world flows from the simple fact that we are the products of such ecological interconnections. It speaks of our ability to recollect, and reconnect to the world, and, hence, of our capacity to negotiate our “homes” within it, in the pursuit of sustainable relations (Braidotti 2006) and transversal connections.”

“Zugehörigkeit ist nicht die Bindung an statische Identitätslinien, sondern die dynamischen und transversalen Bewegungen über ökosophisch miteinander verbundene Kategorien hinweg. Ein Gefühl der Vertrautheit mit der Welt ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass wir Produkte solcher ökologischen Verbindungen sind. Es spricht von unserer Fähigkeit, uns zu erinnern und wieder mit der Welt in Verbindung zu treten, und daher von unserer Kapazität, unser „Zuhause“ darin auszuhandeln, im Streben nach nachhaltigen Beziehungen (Braidotti 2006) und transversalen Verbindungen.” (übers. CB) Rosi Braidotti “The Untimely” in: The Subject of Rosi Braidotti. Politics and Concepts, 2014: 245.

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